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Stau-Phänomene

Drei Zutaten der Stauentstehung

Betrachtet man die Gesamtheit der raumzeitlichen Geschwindigkeitsprofile dieser "Stau-Datenbank" (in der linken Eingabemaske "Jedes" ankreuzen), fällt zunächst auf, dass nahezu alle Verkehrszusammenbrüche an einer sogenannten Engstelle entstehen. In den gezeigten Staus sind dies

  • Autobahnkreuze: West-Kreuz bei Kilometer 492, Nord-West-Kreuz bei km 488, AK Bad Homburg bei km 480), siehe Skizze der A5.

  • Anschluss-Stellen: AS Friedberg bei km 471.

  • Steigungen und Gefälle: Auf der A5-Nord bei km 477-478.

  • Unfälle: An verschiedenen Stellen, in der Volltextsuche "Unfall" eingeben.

  • Sonderfälle: Beispielsweise sich bewegende Engstellen (moving bottlenecks) durch Schwertransporte oder Rasenmäharbeiten (in der Volltextsuche "moving" eingeben), aber auch verhaltensinduzierte Engstellen durch räumlich begrenzte Verhaltensänderungen, hervorgerufen beispielsweise durch Unfälle auf der Gegenfahrbahn (hier aber leider keine konklusiven Beispiele in den Daten vorhanden).
Beispiel einer Stauentstehung
Beispiel einer Stauentstehung

Weiterhin ist für einen Verkehrsstau ein hinreichend hohes Verkehrsaufkommen notwendig. Denn Staus werden praktisch nie mitten in der Nacht beobachtet, obwohl dann die Engstellen (bis auf diejenigen, die durch Unfälle oder Sonderfälle bedingt sind) ebenfalls vorhanden sind. Ferner benötigt jeder Zusammenbruch letztlich einen Auslöser im Verkehrsfluss durch unerwartete bzw. fehlerhafte Fahrmanöver.

All dies kann man zu den drei Zutaten der Stauentstehung zusammenfassen (vgl. nebenstehende Abbildung):

  1. Hohes Verkehrsaufkommen. In der Abbildung findet der Zusammenbruch beispielsweise in der morgendlichen Rush-Hour statt.
  2. Engstelle. Hier spielt die Ausfahrt des Nord-West-Kreuzes Frankfurt diese Rolle.
  3. Störung im Verkehrsfluss. Störungen werden verursacht beispielsweise durch abrupte Spurwechselmanöver, Bremsmanöver oder "Jumborennen" (sich überholende LKW blockieren zwei Fahrstreifen).

In der nebenstehenden Abbildung ist die Störung im Verkehrsfluss vermutlich ein Jumborennen: Die sich hinter den LKW ansammelnden Fahrzeuge sind durch den dunkelgrünen Bereich (entspricht etwa 80 km/h) charakterisiert, der sich (ebenfalls mit 80 km/h) um etwa 7:10 Uhr durch das Streckenabschnitt bewegt. Sobald dieser Schwall an Fahrzeugen bei Kilometer 488 auf die Engstelle trifft, bricht der Verkehr zusammen (hellgrüne, gelbe und rote Bereiche).

Qualitative Stauformen: Die "Stylized Facts"

Die in der Bilder-Datenbank gespeicherten Staumuster zeigen, ebenso wie der Verlauf von Staus auf anderen Autobahnen, bemerkenswerte Regelmäßigkeiten in den zu beobachtenden Staumustern. Auf einer qualitativen Ebene kann man diese zu folgenden idealtypischen Merkmalen bzw. Stylized Facts zusammenfassen:

A9-Süd vor München: Staus hinter zwei Autobahnkreuzen
A9-Süd vor München: Ausgedehnte Staus hinter zwei Autobahnkreuzen
A5-Süd vor Frankfurt: Laufende und stehende Stauwellen
A5-Süd vor Frankfurt: Lokalisierte laufende und stehende Stauwellen

   

(1) Die räumliche Ausdehnung ist entweder beschränkt oder ausgedehnt.

Bei einem ausgedehnten Stau (obige Abbildung links) ändert sich die Ausdehnung, während sie bei einem lokalisierten Stau (obige Abbildung rechts) konstant bleibt. Räumlich begrenzte Staus haben meist eine Ausdehnung von 1-2 km.

(2) Der Staukopf ist entweder ortsfest
oder bewegt sich mit der konstanten Geschwindigkeit c.

Dies gilt sowohl für lokalisierte Staus als auch für ausgedehnte Staus. Bei ausgedehnten Staus kann sich der Staukopf auch plötzlich von einem ortsfesten in einen beweglichen Stau transformieren, wie im Beispiel der A9 beim vom AK Neufahrn hervorgerufenen Stau um etwa 10:00 Uhr.

Die Geschwindigkeit c (Werte zwischen -15 km/h und -20 km/h) ist übrigens dieselbe, welche in einer Ampel-Warteschlange den Ort der anfahrenden Fahrzeuge nach Grünwerden beschreibt.

(3) Die stromaufwärtige Staufront hat keine feste Geschwindigkeit.

A8-Ost München-Salzburg beim Irschenberg
A8-Ost München-Salzburg beim Irschenberg

Je nach Nachfrage (stromaufwärtiges Verkehrsaufkommen) und Angebot (Durchlasskapazität an der Engstelle) kann die Geschwindigkeit zwischen etwa c (-15 km/h bis -20 km/h) und der Grenzgeschwindigkeit vc zwischen freiem Verkehr und Stau (etwa 50 km/h) betragen. Insbesondere ist sie negativ, falls die Nachfrage größer als das Angebot ist: der Stau wächst wie in der Abbildung bis etwa 19:00 Uhr. Umgekehrt ist etwa ab 19:00 Uhr die Geschwindigkeit positiv: der Stau schrumpft.

(4) Einheitliche Ausbreitungsgeschwindigkeiten im Stau

Nahezu alle raumzeitlichen Staumuster weisen Strukturen in Form von Schwingungen oder Stop-and-Go-Wellen auf. Abgesehen von der stromaufwärtigen Staufront breiten sich diese Strukturen immer (!) mit der Geschwindigkeit c aus. Diese hängt geringfügig vom Land und vom mittleren Fahrstil der Fahrer ab, jedoch nicht von der Art oder Schwere des Staus. Die mikroskopische Verkehrsmodellierung zeigt, dass c dargestellt werden kann durch

c = -(Fahrzeuglänge+Mindestabstand)  /  Nettozeitlücke,

beispielsweise

c = -(5 m + 2 m) / (1.4 s) = -5 m/s  = -18 km/h.

Dabei muss man jeweils Flotten-Mittelwerte berücksichtigen. Da in den USA die Fahrzeuge etwas länger sind, ist auch c betragsmäßig etwas größer.

(5) In ausgedehnten Staus gibt es entgegen der Fahrtrichtung wachsende Schwingungen.

A5-Süd. Staus verursacht durch eine AS, ein AK und einen Unfall.
A5-Süd. Staus (v.l.n.r) durch eine AS, ein AK und einen Unfall.

Nahe dem Staukopf (bzw. der Engstelle) ist der Verkehrsfluss nahezu stationär (siehe nebenstehende Abbildung). Aber aus kleinen Schwankungen entstehen mit zunehmender Entfernung vom Staukopf oft mehr oder weniger ausgeprägte Stop-and-Go-Wellen, die sich bis hin zu isolierten Stop-and-Go-Wellen verstärken können, aber nicht müssen (unfallbedingter Stau in nebenstehender Abbildung). In diesem Grenzfall ist übrigens eine eindeutige Definition einer stromaufwärtigen Staufront nicht mehr sinnvoll und die Stauwellen werden besser als eigenständige lokalisierte Staus (Übergang von TSG zu MLC, vgl. die Eingabemaske für die Bilderdatenbank) betrachtet.

(6) Je stärker die Engstelle, desto kürzer die Wellenlängen.

Im Gegensatz zur Ausbreitungsgeschwindigkeit hängt die Wellenlänge der Stauwellen signifikant von der Stärke des Staus ab. Die zeitliche Periode nimmt mit der Stärke des Staus ab und beträgt zwischen 4 min und 60 min. Aufgrund der charakteristischen Ausbreitungsgeschwindigkeit von etwa 15 km/h entspricht dies Wellenlängen zwischen 1 und 15 km.

In den Staus auf der A9 stellt das AK München Nord eine größere Engstelle dar als das AK Neufahrn und erzeugt dementsprechend Stauwellen höherer Frequenz. Dasselbe gilt für den zusammengesetzten Stau auf der A8: Der durch einen Unfall hervorgerufene Stau hat kürzere Stauwellen als der Stau durch die Steigungs- und Gefällezonen des "Irschenbergs".

(7) Sehr schwache bzw. starke Engstellen können homogene Staus (ohne Stauwellen) erzeugen.

Geben Sie hierzu in der Volltext-Suchmaske "HST" (homogener synchronizierter Verkehr, entspricht sehr wenig ausgeprägten Engstellen) oder "HCT" bzw. "Unfall" (sehr starke Engstellen) ein.

(8) Moving Bottlenecks.

Moving Bottleneck auf der A5-Nord
Moving Bottleneck auf der A5-Nord (mit Verkehrszusammenbruch)
Moving Bottleneck auf der A5-Süd
Moving Bottleneck auf der A5-Süd (kein Verkehrszusammenbruch)
          

Einen Sonderfall stellen bewegliche Engstellen dar, die beispielsweise durch Rasenmäharbeiten oder Schwertransporte verursacht werden können. Geben Sie dazu in der Suchmaske das Schlagwort "moving" ein. Solche Engstellen können Staus verursachen (siehe das Beispiel auf der A5-Nord), müssen es aber nicht (wie im Beispiel auf der A5-Süd).

Falls Staus verursacht werden, widersprechen diese dem Stylized Fact Nr. 2. Man kann diese Regel aber verallgemeinern und so bewegliche Engstellen mit einschließen:

(2a) Der Staukopf ist entweder am Ort der Engstelle oder er bewegt sich mit der konstanten Geschwindigkeit c

Auch für moving bottlenecks gelten die anderen Stylized Facts unverändert.

Übrigens ist bei moving bottlenecks der Übergang zur Stauursache 3 ("Störungen im Verkehrsfluss selbst") fließend: Man kann ein Jumborennen sowohl als Störung des Verkehrsflusses, als auch ein temporäres, sich mit 80 km/h bewegendes moving bottleneck auffassen.

Quantitative Kenngrößen der Stauwellen

Wachstumsraten der Stauwellen
Zeitreihen verschiedener Detektoren

Für ein quantitatives Verständnis der Stauwellen kann man die charakteristischen Merkmale von Stauwellen in ausgedehnten Staus,

  • Wachstumsraten,
  • Wellenlängen,
  • und Ausbreitungsgeschwindigkeiten,

in Abhängigkeit der Engstellenstärke untersuchen. Alle vier Größen kann man aus den Geschwindigkeits-Zeitreihen mehrerer benachbarter Detektor-Querschnitte ermitteln.

Engstellenstärke

Als leicht messbares Kriterium der Stärke der (aktivierten) Engstelle kann man die Geschwindigkeit im Staubereich unmittelbar stromaufwärts der Engstelle heranziehen. Nach Stylized Fact Nr. 5 sind dort die Geschwindigkeitsschwankungen klein, so dass diese Geschwindigkeit im Allgemeinen wohldefiniert ist. In der Abbildung wäre dies beispielsweise die vom Detektor bei Kilometer 481 gemessene Geschwindigkeit während des Zusammenbruchs (etwa 40 km/h). Offensichtlich gilt: Je geringer die Geschwindigkeit, desto größer die Engstellenstärke (vgl. Herleitung des Phasendiagramms, Abschnitt 3).

Ausbreitungsgeschwindigkeit

Ausbreitungsgeschwindigkeit der Stauwellen
Ausbreitungsgeschwindigkeit der Stauwellen
Wellenlängen der Stauwellen
Wellenlängen der Stauwellen
   

Aus den Zeitreihen erhält man durch Verschiebung der Zeitstempel benachbarter Zeitreihen bis zur größtmöglichen Übereinstimmung (Maximum der verschobenen Kreuzkorrelation, zugehörige Zeitverschiebung τshift) die Fortpflanzungsgeschwindigkeit

Ausbreitungsgeschwindigkeit c  =  τshift  /  Detektorabstand.

Eine Auswertung der Daten der Bilddatenbank ergab sowohl für ausgedehnte Staus (OCT/TSG) als auch für lokalisierte laufende Stauwellen (MLC; all diese Bezeichnungen können in die Suchmaske eingegeben werden) weitgehend übereinstimmende Fortpflanzungs-Geschwindigkeiten. Dies ist in Einklang mit Stylized Fact Nr. 4.

Wellenlänge

Aus den Zeitreihen erhält man direkt die mittlere Periode τ der Schwingungen. Diese sind im Bereich abzulesen, in dem die Schwingungen sich zwar deutlich von statistischen Schwankungen unterscheiden, aber noch nicht gesättigt sind (für den hier abgebildeten Fall liegt der Bereich zwischen km 474 und 477). Mit Hilfe der Ausbreitungsgeschwindigkeit c ergibt sich daraus die Wellenlänge λ:

Wellenlänge λ  =  |c| · τ

Eine Auswertung der Daten der Bilddatenbank ergibt die abgebildete Abhängigkeit der Wellenlänge von der Stärke der Engstelle: Für große Stärken ergibt sich ein minimaler Wert von etwa 1.5 km (Eingabe von "OCT" in die Suchmaske), für kleinere Engstellen (entsprechend Fahrzeuggeschwindigkeiten beim Staukopf oberhalb von etwa 25 km/h) wächst die Wellenlänge, bis man schließlich einzelne Stauwellen (Suchmasken-Eingabe "TSG") erhält. Alle diese Ergebnisse sind in Übereinstimmung mit Stylized Fact Nr. 6.

Wachstumsrate

Wachstumsraten der Stauwellen
Wachstumsraten der Stauwellen

Schließlich kann man noch die Wachstumsrate der Stauwellen aus den Zeitreihen bestimmen. Ebenso wie bei der Messung der Wellenlänge geschieht dies im Bereich, in dem die Schwingungen sich deutlich von statistischen Schwankungen unterscheiden, aber noch nicht gesättigt sind (im Beispiel zwischen km 474 und 477): Ansonsten kann man die Wachstumsrate entweder nicht bestimmen (lediglich statistisches Rauschen) oder sie geht gegen Null (Sättigung). In ausreichendem Abstand zur Sättigungsgrenze ist das Wachstum in guter Näherung exponentiell. Für die mittlere Amplitude A der Geschwindigkeitsschwankungen gilt also

A  = A0 · eσ(t-t0).

Über die bereits bei der Ermittlung der Ausbreitungsgeschwindigkeit c benötigten Zeitverschiebung τshift zur optimalen Übereinstimmung benachbarter Detekorzeitreihen lässt sich die Wachstumsrate somit durch die Amplituden Aup und Adown der Geschwindigkeitsschwankungen dieser Detektoren schätzen:

σ  =  1/τshift · ln(Aup/Adown).

Das Ergebnis ist in Übereinstimmung mit den Stylized Facts Nr. 5 und 7: Positive Wachstumsraten (wachsende Stauwellen) für die meisten Engstellenstärken und negative Wachstumsraten für freien Verkehr. Allerdings kann man negative Wachstumsraten schwer messen, da dann keine mit obiger Gleichung auswertbaren systematischen Schwankungen existieren.

Referenzen

  1. Dirk Helbing, Martin Treiber, Arne Kesting, Martin Schönhof: Theoretical vs. Empirical Classification and Prediction of Congested Traffic States, The European Physical Journal B 69, 583-598 (2009). Abstract, Preprint.

  2. Martin Treiber, Arne Kesting, Dirk Helbing: Three-phase traffic theory and two-phase models with a fundamental diagram in the light of empirical stylized facts, Transportation Research Part B: Methodological 44(8-9), 983-1000 (2010). Abstract, Preprint.

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